Eines Morgens riechst du den Herbst
Eines Morgens riechst du den Herbst.
Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles.
Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt…, na … na …, und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: Die Blätter, die Bäume, die Sträucher … aber nun ist alles anders.
Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst.
Wie viele hast du? Dies ist einer davon.
Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören.
Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres.
Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes.
Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.
Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit…
Kurt Tucholsky, Die fünfte Jahreszeit (Auszug)
Erschienen unter dem Pseudonym “Kaspar Hauser” in der Weltbühne am 22.10.1929
… manchmal aber ist sie auch einfach nur ein Abschied [tbc]